Als Talentberaterin, Coachin und Mental Health Advocate hat Daria Kyrilova bereits mit vielen Tech-Unternehmen in unterschiedlichen Phasen zusammengearbeitet und Trainings zur Förderung der psychischen Gesundheit der Mitarbeiter*innen durchgeführt. In diesem Artikel beschreibt sie die häufigsten Warnzeichen für Stress und Überforderung am Arbeitsplatz und gibt praktische Tipps, wie die Personalabteilung überforderte Mitarbeiter*innen auf persönlicher und auf organisatorischer Ebene unterstützen kann.
Stress: eine normale Reaktion auf weniger normale Situationen
Ganz gleich, wo wir herkommen, welchem Beruf wir nachgehen oder welches Gehalt wir verdienen, unsere Körper funktionieren gleich: Wenn unser Nervensystem eine Veränderung (oder einen „Stressor“) in unserer Umgebung feststellt, die sich negativ auf unser Wohlbefinden auswirken könnte, dann löst dies eine Stressreaktion aus. Allerdings ist Stress nicht nur normal, sondern für unsere Gesundheit und unser Überleben einfach lebensnotwendig – Stress ist vergleichbar mit einer Alarmglocke, die immer dann ertönt, wenn wir besonders auf uns achten geben sollten.
Es gibt unterschiedliche Stressoren oder auch Stressauslöser am Arbeitsplatz. Einige davon sind real, beispielsweise eine Entlassung; andere sind nur vermeintlich real, wie die Vermutung, man könnte gefeuert werden. Interne Stressoren sind etwa die Angst vor einer Leistungsbeurteilung und externe Stressfaktoren können Mitarbeiterentlassungen sein.
Manche fallen kaum ins Gewicht – zum Beispiel eine eingehende E-Mail – und andere umso mehr – beispielsweise die Insolvenzanmeldung eines Unternehmens.
Teil 1: COVID-19 und psychische Gesundheit
Die COVID-19-Pandemie hat unsere Lebenswelt auf den Kopf gestellt und sich nahezu auf jeden Aspekt unseres gesellschaftlichen Miteinanders, unserer Wirtschaft und unseres Alltags ausgewirkt – und Stressoren jeglicher Art ausgelöst. Je mehr Stressfaktoren wir ausgesetzt sind, desto stärker wird unser Nervensystem belastet und desto mehr kann unsere psychische Gesundheit darunter leiden.
Der Präsident des britischen Royal College of Psychiatrists erklärte kürzlich, dass COVID-19 die größte Gefahr für die psychische Gesundheit seit dem Zweiten Weltkrieg darstellt. Es ist verwundert nicht, dass viele der Erfahrungen, die als typisch für diese Pandemie gelten, bekannte Risikofaktoren für Burnout und andere psychische Erkrankungen sind:
- unklare oder fehlende Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben,
- extrem hohe Arbeitsbelastung,
- körperliche und emotionale Erschöpfung,
- mangelnde soziale Unterstützung,
- Gefühle der Machtlosigkeit
- oder fehlende Kontrolle.
Woran erkennen wir, dass jemand psychisch überfordert ist?
Stress belastet und es kommt zu Fehlregulierungen in unserem Nervensystem. Erlebt eine Person das Gefühl von Unsicherheit, Instabilität und Überforderung über einen längeren Zeitraum hinweg, kann sich deren Wahrnehmungs-, Leistungs- und Aufnahmefähigkeit sowie inneres Erleben – im Vergleich zu ihrem normalen, gesunden regulierten Zustand – erheblich verändern.
Wie sich Stress und Überforderung auswirken, kann sich auf vielfältige Weise zeigen. Einige Stressreaktionen fallen eher leicht aus – jemand ist reizbarer als sonst –, andere wiederum stärker – Panikattacken zum Beispiel. Es gibt Stressreaktionen wie Arbeitssucht, die in einigen Arbeitskulturen gelobt und belohnt werden; ein plötzlicher Gefühlsausbruch bei einem Menschen hingegen wird stigmatisiert und gilt als „unprofessionell“.
Veränderungen im Verhalten von Mitarbeiter*innen – ob es nun leichte oder starke sind, diese plötzlich oder allmählich auftreten – können darauf hinweisen, dass diese psychisch überfordert sind und Hilfe benötigen. Potenzielle Warnzeichen sind aus der Ferne (bei Remote-Arbeit etwa) nicht so leicht zu erkennen; noch schwieriger ist dies bei der Kommunikation per E-Mail oder Chat, da hier nonverbale Signale wie Tonfall, Mimik oder Gestik fehlen, die für den Kontext wichtig wären.
Wenn wir bemerken, dass sich das Verhalten, die Arbeitsleistung, das Konzentrationsvermögen oder das Kommunikationsverhalten einer Person verändert, dann sollten wir umgehend und vor allem einfühlsam nachhaken. Nur so können wir herausfinden, was vor sich geht und Missverständnisse oder Fehlinterpretationen vermeiden.
Häufige Anzeichen und Stressreaktionen, auf die wir achten sollten
In den nächsten Abschnitten sehen wir uns einige häufige Stressreaktionen am Arbeitsplatz an, die bei psychischer Überforderung auftreten können. Menschen reagieren unterschiedlich auf Stress und Überforderung – bei einigen machen sich unterschiedliche Anzeichen bemerkbar, bei anderen nur wenige oder gar keine. Auch sind die Ursachen dafür vielfältig – bei manchen Menschen sind sie stressbedingt, bei anderen wiederum liegen andere Gründe oder Auslöser dafür vor.
Ganz gleich, was eine Stressreaktion auslöst: Wir sollten zuallererst der Person die Möglichkeit geben, im geschützten Rahmen über ihr Wohlbefinden zu sprechen, und zwar ohne sie zu verurteilen oder ihr mit einer Strafe zu drohen.
(Hinweis: Die folgenden Punkte verstehen sich vielmehr als Aufforderung zum Nachfragen und Unterstützen und dienen nicht als Vorlage, um sich eine Meinung über jemanden zu bilden oder eine Diagnose zu stellen – Letzteres sollte ohnehin nur von qualifizierten Psycholog*innen oder Psychiater*innen gestellt werden.)
KONTROLLE / MEHRARBEIT
Eine gängige Strategie für den Umgang mit Dingen, die wir nicht kontrollieren können, besteht darin, uns auf das zu konzentrieren, was wir kontrollieren können. Aus diesem Grund stürzen sich viele von uns in die Arbeit, sozusagen als Flucht vor Stress und Hilflosigkeit in anderen Lebensbereichen. Steuern wir dem nicht entgegen, kann das in “manisches Arbeiten“ oder „toxische Produktivität“ umschlagen – mit der Folge, dass wir uns immer weiter von unseren Bedürfnissen, Beziehungen, Perspektiven und unserem Sinn für Selbstwirksamkeit entfernen und auf ein Burnout zu rennen. „Letztendlich gehen wir daran kaputt, weil wir zu sehr versucht haben, uns zusammenzureißen“ – so drückt dies der Organisationspsychologen Gianpiero Petriglieri aus.
Achte darauf, ob ein*e Kolleg*in:
- ständig Überstunden macht und/oder Pausen auslässt, selbst wenn es die Arbeit eigentlich zulässt
- eine große Anzahl ungenutzter Urlaubstage hat und vergisst – oder sich weigert –, Tage freizunehmen
- häufig online ist und E-Mails/Nachrichten auch außerhalb der Arbeitszeit schickt
- zunehmend Selbstkritik übt und Schuldgefühle im Job äußert, wie „Ich arbeite nicht genug/gut genug“, „Ich könnte/sollte mehr arbeiten“
- immer mehr zum Mikromanagement neigt und detaillierte Anweisungen gibt
- sich auf willkürliche oder selbst auferlegte Fristen und Arbeitsergebnisse versteift, selbst wenn diese nachverhandelbar sind
- auf Fragen nach dem emotionalen Zustand, der Stimmung und dem Wohlbefinden nur mit allgemeinen und nicht aussagekräftigen Antworten wie „Mir geht es gut“ reagiert
REAKTION / WIDERSTAND
Stress beeinträchtigt unsere Fähigkeit, unseren Gemütszustand und unsere Reaktionen zu steuern. Auch wenn gesteigerte emotionale Reaktionen am Arbeitsplatz als irrational und fehl am Platz ansehen, sind sie aus neurologischer Sicht ganz normale und valide Reaktionen. Unser Körper wurde so konzipiert, um uns vor Schaden zu bewahren.
Achte darauf, ob ein*e Kolleg*in:
- zunehmend empfindlicher, reizbarer, launischer ist oder sich, aggressiv, defensiv oder passiv-aggressiv verhält
- sich Veränderungen oder Autorität zunehmend widersetzt oder mit Ablehnung darauf reagiert
- auf Störungen oder Unterbrechungen bei der Arbeit, in Gesprächen und ähnlichen Situationen empfindlicher reagiert
- Schwierigkeiten hat, mit Feedback oder Konflikten gefasst und rational umzugehen
RÜCKZUG/VERMEIDUNG
Je gestresster wir sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass uns selbst kleine Stressauslöser überfordern. Für gewöhnlich „schalten wir ab“ in einer solchen Situation, indem wir uns von der vermeintlichen Stressquelle freimachen oder distanzieren, wie etwa von unserem Posteingang, von Meetings, von Kolleg*innen – oder allgemein von der Arbeit. Je länger wir Stress ausgesetzt sind, ohne dass wir gegensteuern oder uns davon erholen können, desto heftiger können unsere Reaktionen (Rückzug/Vermeidung) darauf ausfallen.
Achte darauf, ob ein*e Kolleg*in:
- bei eingehenden Aufgaben, Anrufen oder Nachrichten schneller aus der Fassung gerät als sonst
- weniger ansprechbar oder schwerer zu erreichen ist
- sich immer mehr distanziert und sozial zurückzieht
- zunehmend Situationen meidet, die mit emotionalem Aufwand verbunden sind – Besprechungen, Konflikte, Feedback geben oder erhalten und weitere Situationen, die zwischenmenschliche Kommunikation verlangen
- immer häufiger bei Besprechungen die Kamera/das Mikrofon ausschaltet, sich weniger als sonst daran beteiligt oder Besprechungen (auch in letzter Minute) absagt
- demotivierter oder pessimistischer erscheint oder sich immer häufiger herausnimmt
- vermehrt zu spät zur Arbeit kommt oder der Arbeit ganz fernbleibt
GEMINDERTE LEISTUNGSFÄHIGKEIT
Stress als Dauerzustand beeinträchtigt unsere kognitiven Fähigkeiten. Selbst die kompetentesten, widerstandsfähigsten und leistungsfähigsten Menschen erleben einen Leistungsabfall, wenn sie konstant unter Stress stehen.
Achte darauf, ob ein*e Kolleg*in:
- Anzeichen von Müdigkeit oder Erschöpfung zeigt
- Schlaf- und/oder Appetitstörungen erwähnt hat
- Konzentrationsschwierigkeiten oder Aufmerksamkeitsschwäche hat
- große Schwierigkeiten hat, Entscheidungen zu treffen, oder die Entscheidungsfindungen öfters hinauszögert
- vergesslicher als sonst ist oder ihm*ihr häufiger Fehler unterlaufen
Teil 2: 4 Wege zur Förderung der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz
Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz sollte höchste Priorität haben – das Bewusstsein dafür hat die Pandemie geschärft. Denn das psychische Wohlbefinden der Mitarbeiter*innen ist für erfolgreiche Unternehmen überlebenswichtig. Deswegen sollten Unternehmen rechtzeitig aktiv werden und die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiter*innen schützen: Vorbeugen ist besser als Heilen.
Auf organisatorischer Ebene muss deshalb Folgendes festgelegt werden: welche Strukturen zur Förderung der psychischen Gesundheit sind bereits intern vorhanden (z. B. Konfliktmediation), wo werden qualifizierte Schulungspartner*innen gebraucht (z. B. Best Practices für den Umgang mit bestimmten psychischen Erkrankungen am Arbeitsplatz) und was sollte outgesourct werden (z. B. an Beratungs- und Vermittlungsdienste).
„Heutzutage ist der Glaube, dass man das Wohlbefinden der Mitarbeiter*innen erhalten kann, auch wenn man die eigene Unternehmenskultur und das eigene Wertesystem nicht weiterentwickelt, mit dem Versuch vergleichbar, einen Knochenbruch mit Pflastern und Schmerzmitteln heilen zu wollen.“
Ein Kulturwandel im Unternehmen beginnt mit kleinen Schritten, die im gesamten Unternehmen Anklang finden und umgesetzt werden. Für den Anfang haben wir hier vier mögliche Anknüpfungspunkte:
Gib Menschen das Gefühl, dass man ihm zuhört, ihm vertraut, ihn wahrnimmt und er Unterstützung verdient.
Menschen mit psychischer Belastung werden häufig falsch verstanden und stigmatisiert. Das macht es für uns alle schwieriger, uns Probleme einzugestehen und um Unterstützung zu bitten. Begegnen wir verletzlichen Teammitgliedern mit Einfühlungsvermögen, Verständnis und Respekt, tragen wir dazu bei, dass sich die emotionale Belastung abbaut oder das Gefühl von Scham oder „Zerrissenheit“ abschwächt. Ein solches Verhalten von unserer Seite nimmt ihnen auch die Angst vor Verurteilung oder Bestrafung und schafft die Grundlage für Vertrauen und Verbundenheit, die für die Genesung dieser Mitarbeiter*innen unerlässlich ist.
Man kann andere nur wirksam unterstützen, wenn man als positives Beispiel vorangeht und das eigene Stresslevel kontrolliert.
Wenn ein Teammitglied Schwierigkeiten hat, richten wir gern unseren Fokus auf diese Person und deren Verhalten – und damit weg von uns selbst. Haben wir mit dieser Person zu tun, überträgt sich deren Stress oft auf uns selbst. Was folgt sind Stressreaktionen, die sich in Form von Verurteilung, Voreingenommenheit, Frustration, „Helfer- oder Rettersyndrom“ oder Schuldzuweisungen äußern – all dies kann unsere Bemühungen, der anderen Person zu unterstützen, zunichte machen.
Wenn Du mit jemandem über deren psychische Belastungen sprechen möchtest, dann solltest Du sichergehen, dass Du in der richtigen Verfassung bist und in erster Linie zuhören, mehr erfahren und eine Verbindung herstellen möchtest. Du solltest während des gesamten Gesprächs präsent, offen und respektvoll sein und von Ratschlägen oder persönlichen Meinungen absehen, es sei denn, die Person bittet dich explizit darum und ist offen und bereit dafür.
Selbstwirksamkeit ist wichtig für die Genesung und eine positive Veränderung.
In turbulenten und unsicheren Zeiten wie die Corona-Pandemie fühlt sich alles um unser herum bedrohlicher und unberechenbarer an. Arbeitgeber, die ihre Mitarbeiter*innen in solchen Zeiten unterstützen, sind in der Lage, das Gefühl von Vertrauen, Kontrolle und Stabilität am Arbeitsplatz in ihrem Team wieder aufzubauen.
Fördere ein klares, konsequentes und verlässliches Verhalten, indem Du Dich transparent verhältst, klare Erwartungen äußert und Deinen Worten auch Taten folgen lässt. Fokussiere Dich nicht darauf, was Deine Mitarbeiter*innen nicht können oder nicht sollen, sondern darauf, was sie können und worauf sie Einfluss haben. Biete Alternativen an, anstatt auf die Einhaltung von Vorschriften zu pochen oder Deine Vorstellung durchzusetzen, wie etwas umgesetzt werden sollte.
Selbstwahrnehmung und -kontrolle sollten anerkannt, gewürdigt und belohnt werden.
In unserer schnelllebigen, leistungsorientierten Arbeitskultur werden harte Arbeit und Produktivität sehr geschätzt. Das kann dazu führen, dass in extrem belastenden Zeiten wie der Corona-Pandemie sich Mitarbeiter*innen zu wenig um sich selbst kümmern. Mit der Folge, dass die Zahl der Burnout-Fälle in die Höhe schnellt. Arbeitgeber sollten sich deshalb nicht nur die Performance ihrer Mitarbeiter*innen im Fokus haben, sondern auch Verhaltensweisen am Arbeitsplatz unterstützen, fördern und anerkennen, die die Selbstwahrnehmung und Selbstkontrolle fördern. Beispiele hierfür wären, dass sich jemand aus einem hitzigen Gespräch zurückzieht, um die Fassung wiederzuerlangen, oder jemand feststellt, dass die eigene Leistungsfähigkeit aufgrund von Stress nachlässt und deshalb etwas dagegen unternimmt oder offen über seinen mentalen Zustand spricht und um Unterstützung bittet.
Falls Du oder eine andere in Berlin ansässige Person psychische Probleme hat und Unterstützung benötigt, der Berliner Krisendienst bietet ganzjährig rund um die Uhr kostenlose telefonische Beratung an.
Über Daria
Daria Kyrilova hat mit zahlreichen europäischen Tech-Unternehmen zusammengearbeitet. Da sie selbst miterlebt hat, wie Unternehmen von einem aufregenden Start zu einer schmerzhaften Schließung übergehen, weiß sie genau, welche Auswirkungen ein hektischer Unternehmensalltag auf die psychische Gesundheit der Mitarbeiter*innen haben kann.
Als Talentberaterin und qualifizierte Coachin unterstützt sie Start-ups und Scale-ups nicht nur dabei, großartige Teams aufzubauen und zu skalieren. Sie hilft ihnen auch, im Team eine gewisse Stressresilienz aufzubauen und das langfristige Wohlbefinden zu fördern, und zwar, indem sie unternehmensintern über psychische Belastungen wie Stress, Burnout und Trauma aufklärt.